Heute geht es um den Start der Koalitionsverhandlungen von Union und SPD, die Bundestagsdebatte über die neuen Kredite für Infrastruktur und Verteidigung sowie die wohl letzte große Reise von Annalena Baerbock als Außenministerin.
Weil du immer für mich da bist
Wenn heute die Koalitionsverhandlungen von Union und SPD beginnen, dann steht ein Ergebnis schon vorher fest: Die Auslagen für ihre Verpflegung werden korrekt gesplittet. Ein Mitarbeiter der CDU-Bundesgeschäftsstelle sammelt gewissenhaft alle ihm zugestellten Bewirtungsbelege und »die Kosten werden zu einem späteren Zeitpunkt von dort auf alle Beteiligten aufgeteilt«.
Diese scheinbare Nebensächlichkeit aus der an die 256 verhandelnden Abgeordneten verteilten »Handreichung zu den Koalitionsverhandlungen 2025« ist nicht nur das erste praktisch umgesetzte Finanzabkommen der künftigen Koalition – auf den drei Seiten dieses Dokuments zeichnet sich viel mehr bereits deren innere Verfasstheit ab: höflicher Umgangston, keineswegs überschwänglich, eher nüchtern, korrekt und vor allem vernünftig. Alles ist geregelt wie in der Hausordnung einer gutbürgerlichen Kleingartenanlage: »Die Verhandlungszeit liegt in der Regel zwischen 11 und 17 Uhr«, »die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden ausschließlich der Steuerungsrunde zugeleitet« und »der maximal mögliche Seitenumfang des Ergebnispapiers der Arbeitsgruppe ist im Organigramm geklammert ausgewiesen, Schriftgröße 11, Schriftfarbe schwarz Calibri, Zeilenabstand 1,5«.
Wo noch 2021 liberale Businessheinis und aufgekratzte Ökopaxe mit den Sozialdemokraten hochtrabende Zukunftspläne sponnen, entsteht ab heute unter Vorsitz der Union eine »Zielsetzung für die kommende Legislatur (ein kurzer Absatz, keine langen Chapeau-Texte)« – was fast ein wenig schade ist, sind die ersten Zeilen des Songs »Chapeau« (Robert Redweik, 2020) doch eine treffende Beschreibung der Entstehungsgeschichte dieser Kleinen Koalition: »Weil du immer für mich da bist, / wenn alle andern längst schon gehen.«
Zehn Tage sollen die Beratungen der Arbeitsgruppen dauern, vorzeitige Durchstechereien oder Fotobeweise der Verbrüderung sind nicht erwünscht: »Keine Statements, keine Pressekonferenzen, keine Kommunikation von Zwischenergebnissen, keine Selfies etc.« Das wollen wir doch mal sehen.
Das hätten sich die lustigen Leute von der Satire-Seite »Der Postillon« wohl kaum träumen lassen, als sie vor der Bundestagswahl ihre Wahlomat-Persiflage aufsetzten: Heute berät das Parlament tatsächlich über eine von ihnen scherzhaft aufgestellte Forderung. »Die Schuldenbremse im Grundgesetz soll durch ein Schuldengaspedal ersetzt werden«: So lautete These Nummer 23 des »Postillomat«, und das war, wie sich nun herausstellt, nur eine leichte Zuspitzung dessen, was der Bundestag nun in erster Lesung berät: 500 Milliarden Sondervermögen für die Infrastruktur und Verteidigungsausgaben in faktisch unbegrenzter Höhe.
Bundestagssitzung (Dezember 2024)
Michael Kappeler / dpa
Was die einen für eine unumgängliche Notwendigkeit halten und dafür demokratietheoretische Bedenken beiseiteschieben, halten die anderen für praktisch undemokratisch. Denn nicht nur wollen Union und SPD das gigantische Ausgabenprogramm noch mit einer nur noch als Schatten der Vergangenheit existierenden Zweidrittelmehrheit des alten Parlaments durchbringen. Sie wollen dieses Vorhaben auch noch so schnell durchpeitschen, dass die Abgeordneten womöglich gar keine Chance haben, sich angemessen mit dem beschäftigen zu können, worüber sie da abstimmen sollen. AfD und Linke haben gegen die Sondersitzung beim Bundesverfassungsgericht Klagen eingereicht, die Entscheidungen stehen noch aus.
Heute wird der Bundestag noch nichts beschließen, zum Schwur kommt es erst am kommenden Dienstag – dennoch ist eine spannende Redeschlacht zu erwarten. Die Union wird ihre plötzliche Schuldenkehrtwende erklären müssen. Die Grünen (S+) werden Friedrich Merz Wahlbetrug vorwerfen, Linke und AfD wohl den Vorwurf des Verfassungsbruchs erheben. Ähnlich wird sich womöglich die BSW-Chefin Sahra Wagenknecht äußern (wenn sie denn kommt) (S+). Für Nostalgiker gibt es ein Wiedersehen mit der scheidenden FDP (S+). Allein die SPD kann heute einigermaßen entspannt debattieren: Sie war schon vor der Wahl für die Kreditaufnahme.
Als der Bundestag zum letzten Mal über ein Sondervermögen debattierte, jenes für die Bundeswehr nach der Scholz’schen »Zeitenwende« im März 2022, kam es zu einem bemerkenswerten Austausch. Unionsfraktionschef Friedrich Merz signalisierte zwar Zustimmung, konnte sich aber eine Spitze gegen die Ampelregierung nicht verkneifen: »Sie können von mir aus feministische Außenpolitik machen, feministische Entwicklungshilfepolitik, das können Sie alles machen, aber nicht mit diesem Etat für die Bundeswehr.«
Annalena Baerbock am Mittwoch bei ihrer Ankunft in Québec
Sebastian Gollnow / dpa
Das wollte die grüne Außenministerin nicht so stehen lassen: »Das bricht mir das Herz. Und wissen Sie, warum? Weil ich vor einer Woche bei den Müttern von Srebrenica war und die mir (...) gesagt haben: ›Frau Baerbock, damals wurde nicht gehandelt, Anfang der Neunzigerjahre.‹ Als sie, als ihre Töchter, als ihre Freundinnen vergewaltigt worden sind, Vergewaltigung als Kriegswaffe nicht anerkannt war. Nicht vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt wurde. Deswegen gehört zu einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts auch eine feministische Sichtweise. Das ist kein Gedöns!«
Heute vertritt Annalena Baerbock Deutschland beim Treffen der G7-Außenminister im kanadischen Québec. Es ist ihr wohl letzter Auftritt als Außenministerin auf internationalem Parkett, und es ist bitter, welche Sitten in den internationalen Beziehungen keine vier Jahre nach Baerbocks Amtsantritt Einzug gehalten haben: Der US-Präsident betätigt sich als außenpolitischer Erpresser, wirft mit Strafzöllen um sich und macht nebenher Autowerbung. (S+) Und der russische Alleinherrscher kann sich darüber freuen, dass er sich wohl bald und mit Trumps Segen einen Teil der von ihm überfallenen Ukraine einverleiben kann.
Von den Ideen einer feministischen Außenpolitik, der es ja nicht nur um Frauenrechte, sondern um den Schutz von Minderheiten geht, um besseren Zugang zu Bildung und demokratische Teilhabe, scheint diese Welt heute weiter entfernt denn je. Das bedauert hoffentlich sogar Friedrich Merz.
… ist Boris Becker. Schon klar, viele betrachten den ehemaligen Tennis-Star als Verlierer. Aber mir nötigt es Bewunderung ab, wie sich dieser Mann nach jedem Fehler, jeder Niederlage immer wieder aufrichtet. Jetzt hat er ein Buch über seine schlimmen Erfahrungen im Gefängnis angekündigt. Siebeneinhalb Monate saß Becker in Haft, weil er in einem Insolvenzverfahren noch vorhandenes Vermögen verschwiegen hatte.
US-Regierung will Dutzende Umweltvorschriften zurücknehmen: Der Chef der US-Umweltbehörde spricht vom »folgenreichsten Deregulierungstag« der Geschichte: Unter anderem sollen wieder höhere Treibhausgasemissionen für Kraftwerke und mehr Abgase bei Autos erlaubt werden.
Grönländischer Wahlsieger weist Trumps Expansionspläne zurück: Jens-Frederik Nielsen hat mit seiner Demokraatit die Wahl in Grönland gewonnen – und spricht sich direkt öffentlich gegen eine amerikanische Einflussnahme aus. Im Fokus sollen nun andere Themen stehen.
Dortmund trifft im CL-Viertelfinale auf den FC Barcelona, Bayern spielt gegen Inter: Zwei interessante Duelle stehen den verbliebenen deutschen Teams in der Champions League bevor: Die Münchner erleben eine Neuauflage des Finals von 2010, der BVB trifft auf den von Hansi Flick trainierten FC Barcelona.
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Istanbuls Rathauschef Imamoğlu: »Wir begeben uns auf eine Reise«
Chris McGrath / Getty Images
Bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei vor zwei Jahren ließ Ekrem Imamoğlu noch seinem Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu den Vortritt, der verlor damals deutlich gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan. Jetzt will Istanbuls Bürgermeister gegen den Staatschef antreten. Zwar ist der Urnengang noch drei Jahre entfernt, doch schon jetzt merkt man, wie ernst Erdoğan seinen Widersacher nimmt. Nur Stunden, nachdem Imamoğlu seine Kandidatur bekannt gemacht hatte, leitete die Justiz ein Verfahren gegen ihn ein, sein Universitätsabschluss soll gefälscht sein. Mein Kollege Maximilian Popp beschreibt, wie die Chancen auf einen Machtwechsel in der Türkei stehen. (S+)
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